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9. Eintrag

Santiago de Chile, Dienstag, 10.12.2002 (Andi)

Als erstes besichtigen wir heute den Palacio Cousiño, ein sehr schrulliges Gebäude einer überreichen chilenischen Familie diesen Namens, die ihr Geld mit Silber- und Kohlebergbau verdiente, dann diversifizierte und noch heute die grösste chilenische Tageszeitung (El Mercurio), Weinberge, Brauereien und wer weiss was besitzt. Schrullig ist das Haus deshalb, weil es, erbaut 1870 - 78, vollgestopft ist mit Stilelementen des Barock und Rokkoko, die in Europa gut hundert Jahre davor beliebt waren. Dazu hatte es aber den ersten Fahrstuhl Chiles (ein Polstersessel auf einem Stahlgestell), eine Gasversorgung für die Beleuchtung (bis es, als erstes Haus in Chile, auf elektrische Beleuchtung umgestellt wurde), eine Boden-Zentralheizung, fliessendes Wasser (samt einer Leitung für Parfum!) im ganzen Haus und sogar eine Abwasserreinigung. Palacio Cousino
Im Garten des Palacio Cousiño.

Parque de la Paz 1
Denkmal im Parque de la Paz.
Parque de la Paz 2
Markierung einer Folgerstätte.
Parque de la Paz 3
Namen der an diesem Ort Gefolterten und Ermordeten.
Danach liefen wir von unserem Hotel bis nach Providencia - ein stolzes Stück Weg. Die Stadt ist ja nicht gerade klein: es soll ein Drittel Chilenen im Grossraum Santiago wohnen. Immerhin gibt es in Providencia zwischen den glasschimmerenden Hochhauspalästen wenigstens ein gutes Restaurant. Aber das war nicht der Grund für unsere Stadtwanderung: wir wollten zum Parque de la Paz. Es stellte sich heraus, dass der noch ein ganzes Stück weg war (im Reiseführer klang es so, als sei es gleich um die Ecke). So durften wir Bekanntschaft mit dem Santiagoer Bussystem machen. Es gibt sehr viele Busse hier in der Stadt, alle gelb gestrichen. Sie haben handgemalte Schilder in den Windschutzscheiben, auf welchen steht, wohin sie fahren. Fahrpläne gibt es aber nicht, und die Haltezeit an einer Haltestelle ist gerade solange, dass die Leute rein- und rausspringen können. Auf den grossen Strassen gibt es 2 oder 3 Busspuren, und man muss dem Bus winken, wenn man mitfahren will. Leider gibt es keine Pläne mit den Strecken, weder in den Bussen noch an den Bushaltestellen. Ausserdem wird nicht kundgetan, wo man sich gerade befindet. Kurz und gut, es hat etwas mit Lotterie zu tun, i) den richtigen Bus zu erwischen ohne fundierte Kenntnisse der lokalen Geografie, und ii) am richtigen Ort den Bus zu verlassen. Dank Sibylles Verhandlungsgeschick gelang es uns tatsächlich, einigermassen am richtigen Ort letzteres zu tun. Dann ging es ein Stück weit den Hang hinauf (es liegt auf der Ostseite Santiagos, gegen die Anden hin). Immerhin bezeichnet ein grosses Schild den Ort, sonst würde man das für einen Garten halten. Wieso wir uns einen Friedenspark ansehen gehen? An diesem Ort stand früher die Villa Grimaldi, welche zwischen 1973-78 von den Geheimdiensten benutzt wurden, missliebige Personen gefangen zu halten, zu foltern und zu ermorden. Diese Anlage lag nicht irgendwo draussen auf dem Land, sondern in einem Mittelklasse-Wohngebiet. Es ist schwer vorstellbar, dass die Vorgänge hier unbemerkt geblieben sind. Eigentlich sollte an diesem Ort noch eine Art Museum errichtet werden, aber offenbar ist das nicht so einfach. Gegenwärtig sieht man noch einige der Einrichtungen und Platten auf dem Boden bezeichnen verschiedene Orte des Grauens. Soviel zum Gedenken des heutigen internationalen Menschenrechtstages.
Plakat Menschenrechte

Nach diesem Ausflug wollten wir den Abend mit leichterer Ware verbringen. Hier läuft gerade Harry Potter 2 im Kino...

Santiago; Mittwoch, 11. Dezember 2002

Heute ist ein Unterhaltstag: wir waschen unsere Wäsche, d.h. sie wird uns gewaschen. So etwas wie einen Waschsalon gibt es hier nicht. Es ist sogar schwierig, eine Lavanderia zu finden - es gibt fast nur Trockenreinigungsgeschäfte. Wir haben glücklicherweise eine Lavanderia um die Ecke entdeckt und lassen uns für 5 Franken die Wäsche machen. Das Internet-Cafe gegenüber dient als Zeitvertreib. Danach watscheln wir in der Nachmittagshitze zum Bahnhof. Wir würden gerne mit dem Zug nach Puerto Montt reisen, aber die Informationen, ob es diesen noch gibt, sind widersprüchlich. Also wollen wir an die Quelle: die Estacion Central ist mittlerweile eine Shopping-Mall, und es ist nicht so einfach, die Boleteria zu finden. Es gibt noch Züge von Santiago nach Süden, aber die gehen nur noch bis Concepcion - den halben Weg weit. Nun, wir werden doch den Bus nehmen müssen (um die etwa 1000 km zu radeln fehlt uns die Zeit). Wenigstens ist eines der vier grossen Busterminals der Stadt gleich hinter dem Bahnhof, und so erstehen wir unsere Tickets für den Salon Cama nach Puerto Montt, das ist ein Bus mit Liegesitzen. Die Velos werden wir wieder zerlegen müssen (und danach wohl wieder einiges reparieren dürfen). Auf dem Heimweg erstehen wir 3 Beilagscheiben und eine Schraube, die für eine verbesserte Reparatur des Lowriders dienen sollen. Mittels zweier, auf der Strasse gefundenen grossen Beilagscheiben und den gekauften kann die Strebe jetzt angeschraubt werden anstatt mit Draht fixiert zu sein. Das Ergebnis ist eine deutlich höhere Stabilität. Die ist beruhigend, da wir noch einige Kilometer auf Naturstrassen vor uns haben. (Die Lowrider-Firma, Tubus.net, hat sich leider nicht mehr gemeldet; für eine weltweite Ersatzteilgarantie per kostenlosen Kurier eine mässig starke Leistung)

Der letzte Programmpunkt für heute ist der Besuch der grössten Buchhandlung Santiagos. Laut eigener Werbung der wichtigsten von ganz Chile. Nun, das Ergebnis ist etwas enttäuschend: eineinhalb Geschosse, die man bei uns einer mittelgrossen Stadt zusprechen würde. Ein Stauffacher, Hugendubel, Orell Füssli etc. ist da eine ganz andere Grössenordnung... Immerhin ist die Lage nicht ganz so trostlos wie in Argentinien!

Santiago; Donnerstag, 12. Dezember 2002

Heute wollen wir auf den Hausberg von Santiago, um einen Überblick über die Stadt und ihre Umgebung zu bekommen. Der Hügel heisst San Christobal und ist mit einem Funicular und einer Seilbahn erschlossen. Weil wir wieder mal sehr spät dran sind (unser Bus fuhr nicht ganz in die vorgesehene Richtung), nehmen wir tatsächlich die mechanischen Aufstiegshilfen. Ein weiterer Grund ist der Smog. Die Luft ist hier oft wie neblig, nur ist das kein Nebel, sondern eine wabernde Abgaswolke. Die Leute hier behaupten, nur Mexico City sei schlimmer als Santiago. Nun, schwierig zu sagen, aber wir würden einige andere Städte in die gleiche Klasse einordnen...

Die Aussicht auf die Stadt ist einigermassen gut, nur vom Umland sehen wir eigentlich nichts. Vereinzelt recken einige Andengipfel ihre noch schneebedeckten Spitzen aus der Dunsthaube. Der Rest verliert sich in bleigrauem Schleier.

Nach der Rückkehr in die Dunstglocke besuchen wir das Santiagoer Haus von Pablo Neruda, einem der Literaturnobelpreisträger Südamerikas. Er hatte ein Faible für das Meer, weswegen ein Teil des Hauses wie ein Leuchtturm gebaut ist, ein anderer Bodenplatten eines alten Bootes hat, die knarzen, wenn man darauf läuft. Eigentlich besteht das Haus aus drei Häusern, und jedes davon hat eine Bar. Herr Neruda war offenbar ein Partylöwe - man glaubt es nach der Besichtigung des Anwesens.

Die nächste Station ist das Museo de Bellas Artes, welches derzeit zwei ganz gute Spezialausstellungen hat. Eine besteht aus Skuplturen, die auf den ersten Blick sehr heiter wirken, bei genauerem Hinsehen aber immer Referenzen auf schreckliche Ereignisse zeigen. Der Künstler, Victor Hugo Nunez, war während der Pinochet-Zeit in Mexiko im Exil, und kehrte erst vor kurzem nach Chile zurück (anscheinend ist die Zeit der Diktatur in Chile ein viel stärker diskutiertes Thema als in Argentinien; auch im Buchladen gibt es einen recht umfangreichen Bereich zu diesem Thema, der von Pinochets (Auto)Biografie (Erinnerungen eines Soldaten) über allgemeinere Themen wie wirtschaftspolitische zu den Menschenrechtsfragen reicht.). Die andere Ausstellung ist von Gaston Laval, der sich derzeit schwerpunktmässig mit Jerusalem und den drei monotheistischen Religionen beschäftigt. Im letzten Raum arbeitet er noch und man kann mit ihm diskutieren. Erstaunlich war, dass in seinen Bildern eine Referenz zu islamischen Extremisten auftauchte, keine aber zu jüdischen oder christlichen Äquivalenten.

Santiago; Freitag, 13. Dezember 2002

Heute ist fauler Tag. Wir warten auf den Bus, der uns über die Nacht 1000 km nach Süden nach Puerto Montt transportieren wird.

Ausblick

Von Puerto Montt über die Seenroute nach Bariloche (Argentinien), unsere letzte Andenquerung dieser Reise.

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... Sibylle y Andi, 13. Dezember 2002, Santiago de Chile, Chile
updated 20. März 2003