Die übliche Prozedur von Aufrämen, Zusammenpacken und Zeltabbauen kann beginnen. Draussen ist es allerdings noch immer recht frisch. Auch der Hang wurde ¨ber Nacht nicht flacher, und auch die Sonne kann hier offenbar nichts ausrichten. Also schiebe ich das Rad die letzten zwei Serpentinen bis zum Hauptast der Strasse, manchmal nur 10 m bis zur nächsten Pause (bis das Rad wieder mal im Sand steckt). Von der Abzweigung bis zum Pass kann ich wieder fahren - es ist nur ein kurzes Stück. Am Pass, der auch die Grenze ist, stehen einige Skulpturen, was etwas bizarr wirkt. Eine von Gabriela Mistral, der chilenischen Dichterin, und eine von Sarmiento, Argentiniens aufklärerischen Präsidenten aus San Juan aus dem 19. Jahrhundert. Es ist also geschafft, mein höchster Pass. Immerhin ist er nur noch gut 25 m niedriger als der Mont Blanc, der höchste Alpengipfel.
Im Gegensatz zu den anderen Pässen ist der Agua Negra ein klassischer Pass, d.h. auf der einen Seite rauf und dann wieder runter. Die anderen drei Pässe sind eher eine Folge von Pässen als ein einzelner. Hier sind die Anden auch schon viel schmäler als im Norden. Allerdings sind die Berge dafür tendenziell höher.
Ein letzter Blick zurück auf die chilenischen Gipfel, dann geht es hinunter nach Argentinien. Hier fährt man mitten durch Eisfelder voller Penitentes durch. Die Strasse ist dort meisten ganz durchnässt und weich, was nicht immer einfach zu fahren ist. Aber grosse Probleme tauchen nicht auf. Aufwärts ist er wohl nicht immer einfach zu fahren - aber die chilenische Seite ist etwa vergleichbar.
Vor einem als El Arenal bezeichnetem Ort kommt mir ein Radfahrer entgegen. Es ist sogar ein Argentinier, aus Mendoza. Walter, wie er sich vorstellt, ist mit leichtem Gepäck unterwegs, kein Zelt, nur eine Matte und Schlafsack. Das Rad ist auch ein einfaches Modell. Respekteinflössend. Da komme ich mir gleich als verwöhnter Luxusreisender vor.
Kaum weitergefahren, dreht der Wind. Bisher hatte ich leichten Rückenwind, jetzt - grade dass es in eine flache Ebene geht, kommt der Wind von vorne. Natürlich fühlt sich Gegenwind immer stärker an als Rückenwind, aber als mir das erste Mal Sand ins Gesicht bläst, glaube ich dran, dass es ein wenig stärkerer Wind ist.
Abschnittsweise ist die Strasse recht rau. Mich wundert immer mehr, dass das Material das so gut aushält. Die Filter von den Objektiven meiner Kamera werden allerdings immer locker und manchmal fallen sie sogar herunter. Daher checke ich regelmässig die Schrauben am Rad, aber bislang waren sie immer in Ordnung.
Die Berge, durch die sich das Tal windet, sind wirklich sehr dunkel. Wahrscheinlich hat der Pass einen Namen von daher, denn das Wasser im Bach zeigt keine Färbung. Das Nebental heisst Agua Blanca, und wie ich etwas später sehen kann, sind die Hänge dort wirklich aus hellerem Gestein.
Auf gut 3000 m liegt die Aduana, wo ich freundlich empfangen werde. Die Leute hier haben ja nicht allzuviel zu tun, und so ist ihnen wahrscheinlich ein wenig Abwechslung ganz recht. Und, auch wenn es wohl immer mehr werden, soviele Radfahrer kommen auch nicht vorbei. Kurz vor der Aduana ist eine Campamento vom DPV (Dipartemento Provincial de Vial; Strassenunterhalt und -bau), und ab da ist die Strasse geteert. Da läuft es dann wie von alleine - bis zu einem kurzen Gegenanstieg, der die Strasse aus dem hier schon recht breiten Flusstal auf eine grosse schiefe Ebene führt. Auf der geht es dann mit Gegenwind erträglicher Stärke Richtung Las Flores, wo die zweite Aduana auf mich wartet. Auch dort sind die Leute sehr nett und wünschen mir ein gutes neues Jahr. Richtig, heute ist ja Sylvester! Ich frage nach einer Unterkunft, und der Gendarm nennt mir das Hotel Termal Pismanta. Laut Führer ist das eher teuer und nichts Besonderes. Nun, auf dem Weg dorthin (etwa 5 km) finde ich nichts besseres. Es gibt Cabanas und einen Campingplatz, aber nach einigen Tagen draussen möchte ich wiedermal sowas wie ein Bett und eine Dusche. Das im Lonely Planet als Alternative angegeben Hospedaje La Ola ist zum Lastwagenparkplatz umfunktioniert worden - es existiert nur noch auf einigen Strassenschildern. Also lande ich doch im Hotel Termal Pismanta. Und es macht keinen schlechten Eindruck. Es hat etwas Patina/#148; angesetzt, aber es ist viel billiger als im Reiseführer angegeben, und die Leute sind sehr nett und hilfsbereit.
Die Dusche erleichert mich wahrscheinlich um ein halbes Kilo Sand und Staub, jedenfalls kommt es mir so vor. Danach ist mir nach was zu Essen zumute, aber das Restaurant öffnet erst um 22:30 h! Später erfahre ich, dass das wegen Sylvester ist - es gibt ein Mitternachtsdinner! Also lande ich in der Cafeteria, wo ich an zwei grossen Bier labe, und ein paar kleinen Käsesandwiches. Das bringt ein Gesäse in den Schädel!
Als ich die Cafeteria verlassen will, spricht mich ein Mann auf Deutsch an. Es stellt sich heraus, dass es ein Chilene ist, der die Pinochet-Ära v.a. in Deutschland verbracht hat. Hier ist er mit seiner etwas jüngeren zweiten Frau (in Chile gibt es kein Scheidungsrecht, darum gibt es keine offiziellen Ex- und zweiten Frauen). Es wird ein netter Abend mit den beiden. Beim Dinner stellt die Frau Jefe weitgereiste Gäste vor. Einer ist sogar mit dem Velo aus Chile hierher gekommen, und wurde von 2 Chilenen adoptiert. Irgendwann gibt es dann noch so eine Art Tombola, und auf einmal habe ich ein T-Shirt mehr. Gott-sei-Dank nichts Sperriges (z.B. 1 kg Honig), denn wohin damit?
Die Landschaft ist etwas öde zu Beginn. Aber nach etwa 13 km erreiche ich Rodeo, eine Oase mit einem Stausee hintendran. Es liegt an einer Bergkette (einer der Precordillera), die nette Erosionsformationen hat, vielleicht vergleichbar mit denen der Quebrada de Cafayate. Es wirkt sehr angenehm, aber Zeit für einen Aufenthalt will ich mir nicht nehmen. Der Damm des Stausees ist am Eingang zu einer Schlucht in das Gebirge hinein. Am Anfang ist sie eng und sehr steil, und die Strasse windet sich am Felshang entlang. Das Gestein ist sehr dunkel, fast schwarz. Nach einer Weile weitet sich das Tal und links und rechts münden breite, trockene Seitentäler in das Haupttal. Anhand der Spuren in den trockenen Bachbetten kann man gut erahnen, was für Kräfte hier wirken, wenn es mal regnet. Da keine Vegetations das Wasser aufnehmen und bremsen kann, läft alles oberflächlich ab und schiebt allerlei hinderliches Zeug grade mit sich mit. Daher sieht man bei solchen Bachbetten auch oft rechte Strassenschäden. Häufig sind die Bachbetten nicht unter der Strasse durchgef/uuml;hrt (Brücken oder Rohre), sondern über die Strasse, die dort in der Regel dann betoniert statt asphaltiert ist.
Eine zweite enge Passage der Schlucht führt durch Schiefergesteinberge, welche in der Sonne fast metallische glänzen. Eine eigenartige Stimmung. Danach werden die Berge immer niedriger und die Landschaft öffnet sich in die Ebene von San Jose de Jachal, einem kleinen Städtchen von gut 10000 Einwohnern (am Abend höre ich, dass es über 20000 seien, weil die Gemeinde so gross ist; der Informant hiess Miguel und ist 9 Jahre alt, aber ich halte ihn für gut informiert und glaubwürdig).
Um nicht durch die vom letzten Jahr bekannte Gegend nochmals bei der doch beträchlichen Wärme um diese Jahreszeit radeln zu müssen, plane ich eine Schattenparkervariante: ich nehme einen Bus nach Chilecito. Aber, wie sich herausstellt, ist das nicht so einfach. Es gebe einen grossen Bus, aber ob der dann Platz für das Velo hat, sei fraglich. Dann gebe es einen Collectivo (einen kleinen Bus), da könne man das Rad sicher mitnehmen. Der ginge um 12 h. Am Anfang hiess es, in der Nacht. Also warte ich Stunden am Busterminal, zwischendrin eine Runde durch San Jose, um zu telefonieren und etwas zu essen. Es is alles zu, ausser einer Eisdiele. Ich wünsche einen grossen Becher. Als der Eismann fertig ist, stelle ich fest, dass der grosse Becher 1 kg bedeutet. Das dauert eine Weile...
Zurück am Busterminal: umringt erst von interessierten Männern, dann von einer Gruppe Jungs (die sich aber sehr anständig benommen haben, jedenfalls mir gegen¨ber. Im Gegensatz zu anderen Ländern fangen die Leute hier nicht an, alles zu betatschen.). Dann kommt noch bereits erwähnter Miguel mit seiner Schwester, die zwar schon 11 ist, aber immer ihn für sich reden lässt. Um Mitternacht hiess es dann, der Collectivo gehe morgen Mittag. Und, der ginge nicht bis Chilecito, sondern nur nach Villa Union, und dort müsste ich dann übernachten, und am nächsten Morgen mit einem anderen Collectivo weiter. Sonst könnte ich natürlich auch irgendwas über San Juan (der Provinzhauptstadt, 150 km in der falschen Richtung) probieren.
Wenig angetan von diesen Neuigkeiten trotte ich davon, dabei bemerkend, dass mein Sattel gebrochen ist. Letzteres nervt mich gar nicht mehr. Immerhin kenne ich den Ort schon von letztem Jahr und muss nicht lange eines der beiden Hotels suchen. Das gute hier ist, dass man auch nach Mitternacht noch ohne Probleme auftauchen kann. Sie haben noch ein Zimmer. Gute Nacht dann auch.
Es gibt ein Desayuno (Frühstück) im Hotel, bestehend aus Milchkaffee (oder Tee) und hartem Toastbrot. Immerhin bekommt man davon, soviel man will. Am Nebentisch sitzen zwei Motorradfahrer, die sich mit Schweizer Akzent über Fondue unterhalten. Also, mir wäre dafür ein wenig zu warm hier.
Nach dem Bezahlen (25 Pesos) wird mir noch ein Velohändler beschrieben - er ist gleich nebenan. Dort bekomme ich tatsächlich einen neuen Sattel, sogar einen recht guten. Er behagt mir besser als der alte.
Mit dieser Startverzögerung geht es gegen halb elf dann endlich los. Es sind laut Karte etwa 140 km bis Villa Union, mehrheitlich gute Teerstrasse, wie ich vom letzten Jahr noch weiss. Nur zwischen San Jose und Huasco ist ein Stück Sandstrasse, die ich als recht schlecht in Erinnerung habe. Aber, ob Gewöhnung oder ob sie dieses Jahr besser ist, es geht flott voran und nach zweieinhalb Stunden erreiche ich die Kreuzung mit der Ruta 40 und damit den Polizeiposten, der wieder mal als Wasserquelle dient (das Wasser kommt aus dem Kühlschrank und ist eine angenehme Abwechslung zu meinen 40 Grad warmen Bidoninhalten).
Nur wenige Kilometer später kommt mir auf einer der unendlichen Geraden ein Lieferwagen entgegen. Aber, seltsam, der hat eine Kölner Nummer. Er bleibt stehen, und ein Mann steigt aus. Das Vehikel ist ein umgebautes Wohnmobil, aber auf den ersten Blick nicht als solches zu erkennen. Armin lädt mich in sein Gefährt ein, mit dem er seit 2 Jahren in Südamerika unterwegs ist, und wir unterhalten uns bestens über Globetrotter (die verschiedenen Stufen wie Hobbyradler und richtige, die Radler, T&aouml;ffahrer, die Luxusfahrer mit Autos und umgebauten Zehntönnern mit hunderten von PS, ...) und Astronomie.
Als ich wieder aus dem Auto steige (eine bequeme Sitzecke hat was für sich...), trifft mich fast der Hitzschlag. Das Thermometer zeigt was um die 50 Grad, und viel lügen tut es nicht. Wir verabschieden uns und ich dampfe davon. Buchstäblich. Aber es geht zügig voran, kein Gegenwind für einmal. Die Strasse macht auf 75 km zwei leichte Kurven.
Am Ende der dritten Gerade erreicht man Santa Clara, wo es wieder einen Polizeiposten gibt, den Fruchtfliegenpolizeiposten. Der junge Herr will sogar meinen Pass sehen, also gebe ich ihm ihn und bekomme im Gegenzug eiskaltes Wasser, das ich zu schnell trinke und davon Kopfweh bekomme (und einen Knoten im Magen). Es trennen mich noch gut 40 km vom Etappenziel, und es ist leider schon nach sechs Uhr. Ausserdem geht die Strasse über einen Pasito mit etwa 400 Höhenmetern Anstieg. Aber hier waren schlaue Strassenbauer am Werk und haben die Linie optimal gelegt, so dass es kein Problem gibt. Ab hier gibt es wieder viele grüne Papageien (Flugaffen), die in Horden einen Heidenlärm machen. Bei der Abfahrt merke ich aber doch die müden Beine und fürchte, dass ich Krämpfe kriegen könnte. Sie bleiben dann aus.
Nach der Brücke über den Rio Bermejo, der hier noch ein paar Tropfen Wasser hat, erreicht man die ACA-Tankstelle. Letztes Jahr hatten wir hier die fietsende Hollanders getroffen, diesmal finde ich nur den Tankwart hier. Unendlich durstig verlangt es mich nach einer grossen Flaschen Gaseosa, und ich erstehe eine 2.25 l Flasche Grapefruit-Limonade. Meine Veloklamotten zieren weisse Salzränder.
Der Tankwart empfiehlt mir das Hotel Central direkt an der Plaza, und da fahre ich auch geradewegs hin. Es sieht gut aus, aber am wichtigsten ist, dass die Dusche geht, um meine Salzkruste loszuwerden. Danach finde ich noch eine Futterstelle, wo es Pizza gibt und ein grosses Salta Negra (dunkles Bier mit wenig Alkohol - als Ersatz für ein isotonisches Getränk ;-). Die Nacht ist warm, und der Deckenventilator ist eine gute Erfindung.
Die Cuesta de Miranda ist eine sehr schöne Strasse, die durch wildgeformte, orange und rote Felsen führt. Bis Tambillos ist es zum Teil ein wenig mühsam zum fahren. Dort gibt es zwei Etablissments, in welchen es Essen und TRINKEN gibt. Bis hierher habe ich etwa zwei Liter warmes Wasser geschluckt, und hier fülle ich noch zweieinhalb Liter Gaseosa und Saft nach. Ausserdem bekomme ich frisches Wasser.
So gestärkt geht es weiter. Die Strasse wird ein wenig besser, und es sind nur noch ein paar Kilometer bis zur Passhöhe. Etwas unterhalb derselben macht es dann BUMB, und das Velo steht. Etwas verwundert stelle ich fest, dass der Gepäckträcker am Boden liegt, an der Achse aber noch dran. Die Rohrschellen, mit denen er an den Ausfallenden befestigt war, sind gerissen (das erklärte dann auch ein seltsames Geräsch beim Betätigen der Hinterbremse, welches seit etwa einem Tag zu hören war und dessen Ursache ich nicht finden konnte). Es stellt sich aber gleich heraus, dass das kein grosses Problem ist. Wahrscheinlich dank der neuen Bremsen, deren Hebelarme ein wenig kürzer sind als die der alten, kann ich die normalen Ösen verwenden (es geht sich gerade eben aus). Nach zwanzig Minuten kann die Reise weitergehen. Fast am Pass begegnen mir noch zwei Franzosen in ihrem Jeep (auch so Langzeitreisende; arbeitet eigentlich noch wer in Europa?).
Die Abfahrt erscheint mir diesmal nicht so beeindruckend wie beim erstem Mal, aber vielleicht bin ich zu K.O. Also rolle ich bis zur Kreuzung von Nonogasta, und biege zum Schlussstück nach Chilecito ab. Es sind noch etwa 15 km und etwa 200 Höhenmeter, also nichts schlimmes mehr. Auf einmal ist ein Velofahrer neben mir (es gibt in Chilecito relativ viele Rennvelofahrer) und wir unterhalten uns, so gut es mein Spanisch zulässt. Am Ende habe ich eine Einladung von Luis, in seinem Haus zu übernachten, er hätte noch ein leerstehendes Appartement. Na gut!
Das Appartement ist ganz leer, ohne ein Möbelstück, aber ich habe ja eine Therm-a-rest und Schlafsack (letzteren brauche ich nicht, die Nacht wird nicht kühler als 30 Grad. Luis und seine Frau bewundern, dass ich bei der Temperatur solche Strecken fahre. Ich finde es eher dumm, dass es keinen Bus gab...
Im Zentrum am Busterminal versuche ich herauszufinden, ob es eine Busverbindung nach Tinogasta gibt, dem Ausgangsort für den Paso de San Francisco. Nun, ich müsste nach La Rioja und vielleicht von dort aus... Ich traue solchen Aussagen nicht mehr, und wäge die Alternativen ab: selber radeln kostet zwei Tage und bedeutet wieder viel Schwitzen (die Strecke kenne ich auch grösstenteils vom letzten Jahr). Landschaftliche Ödnis. Oder, ein Remis nehmen; das kostet 150 Pesos. Also nicht ganz billig.
Weil ich nicht weiss, was tun, lande ich in einer Heladeria, wo - diesmal nur ein halbes Kilo - Glace meine Denkstränge auf Arbeitstemperatur bringen sollen. Es gelingt nicht, so dass die Entscheidung vertagt wird.
Die Amerikaner, die ich in Salta getroffen habe, sollten in der Gegend sein. Im Internet-Cafe zum Email-Lesen: leider keine Nachrichten von ihnen.
andi, 2004-01-12